Autismus als Teil der Neurodiversität: eine moderne Perspektive
Autismus wurde lange als eine schwere Entwicklungsstörung betrachtet. Heute erkennen Forschende darin einen natürlichen Teil der neurologischen Vielfalt.
Zusammenfassung
Die aktuelle Forschung versteht Autismus als ein Spektrum, das einen natürlichen Teil der Neurodiversität (neurologischen Vielfalt) abbildet. In einer auf neurologische Normalität abgestimmten Welt erscheint Autismus als Störung, welche vor allem die Bereiche soziale Interaktion, Kommunikation und Spezialinteressen betrifft.
Die meiste in Deutschland abrufbare Information zu Autismus ist veraltet und wird insbesondere von autistischen Forschenden stark kritisiert, denn sie beruht auf einem medizinischen Modell, das Autismus defizitär betrachtet und als eine aus der Person heraus entstehenden Entwicklungsstörung beschreibt.
Autismus wurde einst als eine extrem seltene Störung betrachtet, die nur einen winzigen Teil der Bevölkerung betrifft. Von einem bösen Geist war die Rede, der Eltern ihrer Kinder beraube. Heute gibt es viele führende Forschende, die Autismus längst nicht mehr für eine Störung halten. Manche Menschen sehen Autismus sogar als einen fundamentalen Schlüssel für den menschlichen Fortschritt, dank des abweichenden, analytischen Denkstils, der oft mit ihm einhergeht.
Jede hundertste Person wird nach aktuellem Forschungsstand als autistisch erkannt. Dabei ist der Begriff Autismus, wie die Gesellschaft selbst, einem starken Wandel unterworfen. Es überrascht daher auch nicht, dass niemand so richtig weiß, was Autismus eigentlich sein soll. Besorgte Eltern, die ihren Kindern helfen wollen; Erwachsene, die sich in ihren Spezialinteressen verlieren – hinter der Andersartigkeit und einem starken Bedürfnis nach einer eindeutigen Diagnose verbergen sich oft besondere Schicksale. Was haben sie gemeinsam? Die Wissenschaft sucht bis heute erfolglos nach einer einheitlichen Ursache oder einem fundamentalen Merkmal, der den Wesenskern von Autismus erfasst und beschreibt. Von einem Autismus-Spektrum ist daher die Rede: nicht eine einzelne Sache ist Autismus, sondern eine ganze Reihe von Dingen, die anders sind als bei den meisten Menschen.
Das Phänomen Autismus ist dabei nicht mehr nur Sache der Wissenschaft. Es ist der Deutungshoheit der Psychiatrie, Psychologie und Soziologie entglitten und durch die Selbstvertretung autistischer Personen, darunter auch Forscherinnen und Forscher, zu einem Paradigma geworden, das neben Autismus auch weitere neurologische Veranlagungen wie ADHS, Dyslexie oder Hochsensibilität umfasst: Neurodiversität ist der moderne Begriff, der eine natürliche Vielfalt an neurologischen Varianten beschreibt, die an und für sich nicht gestört oder krank sind, sondern einfach nur anders.
Was sich für manche vielleicht liest, als wolle man so bloß Vorurteile und Diskriminierung abbauen, ist in Wirklichkeit ein Umstand, der inzwischen wissenschaftlich gut belegt ist und in der modernen Forschung viel Aufwind erfährt.
Durch den Überbegriff Neurodiversität eröffnet sich eine neue Welt, die unsere bisherige, defizitäre medizinische Sicht auf Menschen, die anders sind als unser Verständnis von normal, infrage stellt. Hervorgehoben wird dabei, dass Autismus bloß deshalb als Störung erscheint, weil Psychiatrie und Psychotherapie aus einer neurotypischen (d. h. aus einer als neurologisch normal geltenden) Perspektive darauf schauen (D. Milton, 2013).
Für autistische Personen wiederum können genauso gut neurotypische Menschen und die Kriterien der Psychiatrie und Psychotherapie als auffallend oder gestört erscheinen. Dabei sind autistische Personen in guter Gesellschaft, denn eine solche Liste von berühmten (diagnostizierten und nicht diagnostizierten) autistischen Personen hat es in sich:
- Albert Einstein
- Alan Turing
- Thomas Jefferson
- Bobby Fischer
- Magnus Carlsen
- Carl Gustav Jung
- Hans Christian Andersen
- Jane Austen
- Marie Curie
- Greta Thunberg
- Thomas Edison
- Andy Warhol
- B.F. Skinner
- Sophie Germain
In diesem umfassenden Artikel soll neben einer Übersicht der wissenschaftlichen Theorien und klinischen Eindrücke von Autismus vor allem auch die Perspektive der Selbstvertretung Platz finden. Die autistische Autorin Donna Williams (1997) beschreibt diesen Ansatz als „von innen heraus“ – im Gegensatz zum Beobachten von außen zählt hier, wie es empfunden wird, als autistische Person auf sich und die Welt zu blicken.
Ein Forscher, der gleichzeitig in einer Rolle als autistischer Selbstvertreter präsent ist, ist Dr. Damian Milton. Milton schlägt unter anderem vor, Menschen zu ermutigen, nie dem Glauben zu verfallen, Autismus verstanden zu haben. Er sagt, wir könnten Autismus an sich gar nicht wirklich verstehen. Was wir aber verstehen könnten, seien die autistischen Menschen, mit denen wir im Kontakt sind.
Dieses Verstehen wollen versteht er als einen fortlaufenden Prozess, eine gegenseitig respektvolle Interaktion, bei der wir Vorurteile und als wahr Angenommenes immer wieder überwinden, um die natürliche Vielfalt an Perspektiven, Denkstilen und Verhaltensweisen anerkennen und schützen zu können.
Zumindest aber stellt sie die Selbstverständlichkeit in Frage, mit der das Autismus-Spektrum bis heute auf unzähligen Webseiten als starke Entwicklungsstörung beschrieben wird, ohne Hinweis darauf, dass es sich dabei um eine heftig kritisierte und pathologisierende Perspektive handelt, die mehr Schaden anzurichten scheint, als sie hilft (D. E. Milton, 2014).
Über die richtige Sprache im Umgang mit Autismus gibt es viele Debatten. Der Großteil der autistischen Stimmen bevorzugt eine Identität-zuerst-Formulierung „autistische Person“ gegenüber einer Person-zuerst-Formulierung „Person mit Autismus“ (Gray-Hammond, 2024; Sainsbury, 2009).
Die Person-zuerst-Formulierung ist die empfohlene Kommunikationsform mit chronisch kranken Menschen im medizinischen Kontext. Sie soll dabei helfen, die Menschen nicht über eine bestimmte Krankheit oder Störung zu definieren und um die Erkrankung nicht als einen Teil der Identität zu behandeln. So wird z. B. empfohlen, nicht von Diabetikerinnen oder Diabetikern zu sprechen, sondern von Menschen mit Diabetes.
Genau deswegen scheinen autistische Menschen eben die Identität-zuerst-Formulierung zu bevorzugen – denn Autismus ist keine Krankheit, sondern beschreibt einen essenziellen Teil der eigenen Identität:
Wir sind nicht Menschen, die ‚einfach zufällig Autismus haben‘; es ist kein Anhängsel, das von dem getrennt werden kann, wer wir als Menschen sind, noch ist es etwas Beschämendes, das auf einen Nebensatz reduziert werden muss.
Nach einer aktuellen, umfangreichen Umfrage bevorzugen die meisten autistischen Menschen die Identität-zuerst-Terminologie, auch im Vergleich zur Nur-Identität-Terminologie „Autistinnen und Autisten“ (Gray-Hammond, 2024). Diese wird zwar der Person-zuerst-Terminologie vorgezogen, aber dennoch deutlich weniger präferiert als die Bezeichnung „autistische Person“. Auf Zensitively wird daher, soweit möglich, die Identität-zuerst-Formulierung verwendet. Im Umgang mit autistischen Menschen empfiehlt es sich, sie einfach zu fragen, welche Formulierung sie bevorzugen und sich möglichst daran zu halten.
Auf Zensitively wird außerdem der Begriff „autistisches Spektrum“ verwendet und Begriffe wie Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder Autismus-Spektrum-Kondition (ASC) vermieden, da diese eine Konnotation mit dem medizinischen Modell des Autismus hervorrufen und dem Selbstwert und Identitätsgefühl autistischer Menschen schaden können. Nur da, wo Aufklärungsarbeit geleistet werden soll und womöglich gezielt nach diesen Begriffen gesucht wird, um Informationen dazu zu erhalten, werden diese Begriffe verwendet.
Autismus Ursachen
Als der Psychiater Eugen Bleuler 1911 über Autismus stolperte, glaube er, eine Art Schizophrenie bei Kindern gefunden zu haben. Er war es, der den Begriff Autismus mit den folgenden Sätzen prägte:
Die Schizophrenen, die keinen Kontakt mehr zur Außenwelt haben, leben in ihrer eigenen Welt. Sie haben sich mit ihren Wünschen und Sehnsüchten eingekapselt … sie haben sich so weit wie möglich von jedem Kontakt mit der Außenwelt abgeschnitten. Diese Loslösung von der Realität, mit dem relativen und absoluten Überwiegen des inneren Lebens, nennen wir Autismus.
Mit dem heutigen Verständnis von Autismus hat diese Beschreibung nicht mehr viel am Hut. Allerdings erklärt sie, wie der Begriff Autismus entstand: Das griechische Wort autos bedeutet selbst, d. h. Autismus sollte so etwas wie „Selbstismus“ heißen – eine Abkehr von der sozialen Welt hin zu eigenen Fantasien und Träumen. Ein in-der-eigenen-Welt-Leben, das Bleuler glaubte, als grundlegende Struktur des Autismus erkannt zu haben.
30 Jahre später, Anfang der 1940er, wurde immer deutlicher, dass sich Autismus von Schizophrenie signifikant unterschied. Zwei weitere Psychiater, Kanner und Asperger, die unabhängig voneinander mit vermeintlich schizophrenen Kindern arbeiteten, erkannten zentrale Symptome von Autismus, die sie im Gegensatz zu Bleuler nicht mit Schizophrenie in Verbindung bringen konnten.
Kanners Arbeit bildete dabei das Fundament für ein erstes Verständnis von Autismus. Bis heute wird im deutschsprachigen Raum viel vom „Kanner-Autismus“ gesprochen, wenn es um frühkindlichen Autismus geht. Aspergers Arbeit hingegen blieb bis in die 1970er Jahren eher unentdeckt im Hintergrund, erfuhr in den vergangenen Jahrzehnten allerdings einen regelrechten Popularitätsschub: Der sogenannte Asperger-Autismus, auch als Asperger-Syndrom bekannt, wurde als eine hochfunktionale Variante des Autismus verstanden. Das Asperger-Syndrom ist als Konzept stark geladen und steht unter massiver Kritik. Zum einen, weil er autistische Menschen nach Funktionalität klassifiziert, und zum anderen, weil die so entstehenden Hierarchien gepaart mit dem Nazi-Hintergrund Aspergers die Gefahr, die mit der Funktionalisierung menschlicher Eigenschaften einhergeht, spürbar macht.
Bis heute ist nicht nur heiß umstritten, was Autismus nun eigentlich ist, sondern auch, wodurch ein solches Entwicklungsmuster bei Kindern verursacht wird. Noch vor wenigen Jahren war es nicht untypisch, zu denken, es wäre die Gefühlskälte von Müttern, die verantwortlich für autistische Kinder sei: von „refrigerator moms“ (Kühlschrankmüttern) war die Rede. Eine waghalsige und frauenfeindliche Theorie, die sich inzwischen als vollkommen unwahr herausgestellt hat.
Theory of Mind: ein mögliches Kriterium für die Autismus Diagnose?
Eine der beständigsten psychologischen Theorien in Bezug auf Autismus ist die Behauptung, dass das Kerndefizit bei autistischen Menschen eine beeinträchtigte Theory of Mind sei (Baron-Cohen et al., 1985).
Mit Theory of Mind ist die Fähigkeit gemeint, sich in andere hineinzuversetzen. Diese wird manchmal auch als Gedankenlesen oder Mentalisierung bezeichnet. Grundlage für diese Theorie waren Experimente, die zeigten, dass autistische Kinder im Alter zwischen 6 und 16 Jahren bei bestimmten Aufgaben scheiterten, welche die Theory of Mind testen sollten (Baron-Cohen et al., 1985; Leslie & Frith, 1988).
Diese Theorie musste jedoch in großen Teilen revidiert werden. Zum einen wurde infrage gestellt, dass diese Theorie für alle Personen auf dem Spektrum zutreffe und dadurch ein zentrales Merkmal des Autismus-Spektrums beschreibe (Happé, 1994). Zum anderen wurde kritisiert, dass das Scheitern bei den Aufgaben auf einen Mangel an Motivation zu Täuschen zurückzuführen sein könnte (De Gelder, 1987). Auch Schwierigkeiten bei der Sprachverarbeitung oder Gedächtnisleistung wurden als mögliche alternative Ursachen genannt (Eisenmajer & Prior, 1991).
Spätere Studien zeigten, dass die Fähigkeit, Theory-of-Mind-Aufgaben erfolgreich zu lösen, mit Alter und IQ zunimmt, was eher auf eine verzögerte Entwicklung der Fähigkeiten hindeutete als auf ein echtes Defizit.
Wie bei ADHS auch, gelten in der Autismus-Forschung Theorien, die eine verzögerte Entwicklung kognitiver Fähigkeiten nahelegen, als am wahrscheinlichsten. Dabei ist naheliegend, dass neurodivergente Kinder (z. B. mit ADHS oder Autismus) nicht so stark von herkömmlichen Lernstrategien profitieren und dadurch möglicherweise länger benötigen, um Fähigkeiten zu erwerben, die für nicht-autistische Kinder gleichen Alters selbstverständlich sind.
Zum Teilen wird diese Verzögerung dadurch verursacht, dass Lernumgebungen auf die Bedürfnisse von neurotypischen Kindern ausgerichtet sind. Spezifische Lernstrategien, die auf die neurologische Struktur von autistischen Kindern ausgerichtet sind, könnten dabei helfen, einen Teil der Verzögerung auszugleichen.
Außerdem ist die Verzögerung gemessen an Kriterien, die maßgeblich für ein neurotypisches System sind. So wird z. B. die Intensität des Eintauchens in Fantasiewelten und die Konzentrationsfähigkeit innerhalb dieser Welten nicht als Lernerfolg gewertet.
Ein weiteres Argument, das später in diesem Artikel vertieft werden wird, ist, dass ein vermeintliches „Defizit in den sozialen Funktionen“ nicht ausschließlich innerhalb einer Person verortet werden kann, sondern vielmehr als ein Zusammenbruch der Kommunikation zwischen zwei Personen betrachtet werden müsste, die Informationen sehr unterschiedlich verarbeiten (D. Milton, 2012).
Exekutive Funktionen
In der Psychologie werden Fähigkeiten, die daran beteiligt sind, eine angemessene Problemlösestrategie aufrechtzuerhalten, um ein zukünftiges Ziel zu erreichen, als exekutive Funktionen bezeichnet.
Dieser Begriff ist neben Autismus besonders häufig im Kontext von ADHS anzutreffen. Die Theorie, dass ein Defizit in den exekutiven Funktionen ein zentrales Merkmal von ADHS darstellt, hält sich bis heute hartnäckig, als wäre es ein Fakt, obwohl es vielfach kritisiert und wissenschaftlich infrage gestellt wurde. Auch autistische Menschen scheinen Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen zu haben, z. B. beim Wechseln der Aufmerksamkeit (Tammet, 2007).
Die Idee, dass es sich dabei um ein Kernmerkmal von Autismus handelt, wurde allerdings von vielen Forschenden kritisiert, denn insbesondere Personen mit der Diagnose Asperger-Syndrom schneiden in exekutive Funktionstests gut ab.
Eine weitere Forschergruppe fand zudem heraus, dass autistische Menschen oft ausgezeichnet in nonverbalen IQ-Tests und auch Problemlöseaufgaben abschneiden – Tests also, die keine verbale Verarbeitung erfordern (Dawson et al., 2007).
Viele Forschende werten das als einen Hinweis darauf, dass bei autistischen Menschen die exekutive Planung für nonverbale Aufgaben von verbalen Aufgaben getrennt wird. Man kann also eine Schwäche in verbalen Antworttests nicht zwangsläufig auf ein Defizit der exekutiven Funktionen zurückführen. Wahrscheinlicher ist die Interpretation, dass exekutive Funktionen bei autistischen Personen anders funktionieren.
Monotropismus
Eine aktuelle Theorie zum Verständnis der Autismus Ursachen ist die des Monotropismus. Als einzige der vorgestellten Theorien wurde diese mit Einbezug der autistischen Perspektive entwickelt. Die Monotropismus-Theorie beruht auf der Annahme, dass das Ausmaß an Aufmerksamkeit, das eine Person zur Verfügung hat, notwendigerweise begrenzt ist. Dadurch würde die Gestalt kognitiver Prozesse durch einen Wettkampf um Aufmerksamkeit bestimmt: mentale Vorgänge, die Aufmerksamkeit erhalten, werden gefördert und weitergeführt, während die Vorgänge, die keine Aufmerksamkeit erhalten, ein anderes Schicksal zuteilwird. Menschen, so der Monotropismus, unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise, wie die Aufmerksamkeit verteilt wird.
Die Monotropismus-Theorie argumentiert, dass diese Strategien zur Aufmerksamkeitsverteilung zum Großteil genetisch veranlagt sind und die Bandbreite der Veranlagungen von einer gestreuten Aufmerksamkeit für ganz viele Prozesse hin zu einem Fokus auf eine kleine Anzahl an Interessen reicht (Murray et al., 2005). Menschen, die eher ein kleineres Gebiet fokussierter Interessen beachten, werden dabei zum Autismus-Spektrum gezählt, während Menschen, die ihre Aufmerksamkeit breiter gestreut einsetzen können, als nicht-autistisch (auch allistisch genannt) gelten.
Es geht dabei vor allem um konkrete Prozesse, wie eine Unterhaltung, und nicht zwangsläufig um Interessen. Während eine allistische Person ihre Aufmerksamkeit streuen und eine große Bandbreite an Kontext berücksichtigen kann, ist eine autistische Person wie in einem Aufmerksamkeitstunnel. Bei einer Unterhaltung würde es sich z. B. dadurch bemerkbar machen, dass die gesamte Konzentration der autistischen Person sich auf die Entschlüsselung des Inhalts fokussiert, während eine allistische Person den gesamten Kontext, inklusive sozialer Gepflogenheiten und mögliche Reaktionen des Gesprächspartners, beachten kann.
Dadurch fällt es der allistischen Person leichter, einen sozialen Subtext zu konstruieren – eine bekannte Schwäche vieler (aber nicht aller) autistischer Personen. Im Übrigen ist es eine veraltete Perspektive, dass autistische Menschen Kommunikation immer wörtlich nehmen und Gefühle oder Absichten nicht erkennen können. Viele autistische Personen erwerben diese Fähigkeiten sehr wohl, allerdings auf eine andere Art als allistische: sie konzentrieren sich auf weitere Aspekte der Kommunikation, wie z. B. Augenbewegungen, zum Ableiten der Gefühle.
Die Monotropismus-Theorie erklärt auch, warum es für Personen auf dem Autismus-Spektrum einige sehr leidenschaftliche Interessen gibt, während viele andere Dinge vollkommen uninteressant erscheinen.
Auch könnte so erklärt werden, dass eine überraschende Veränderung in dem „Aufmerksamkeitstunnel“, in dem sich autistische Personen häufig wiederfinden, sich gefährlich anfühlen kann. Nicht selten berichten autistische Menschen davon, das Gefühl zu haben, in bestimmten Situationen von einem inneren Sicherheitsgefühl getrennt zu werden und sich regelrecht zu verlieren. Vergleichbar wäre das mit einem U-Boot, das in die Tiefe fährt und dann plötzlich den Kontakt zur Außenwelt verliert.
So könnte dann auch eine Hochsensibilität und hohe Detailwahrnehmung zustande kommen, für die autistische Personen bekannt sind. Schon länger ist klar, dass autistische Personen hypersensibel (hochsensibel) auf Reize reagieren können, gleichzeitig aber auch für ähnliche, aber andere Reize hyposensibel (d. h. besonders unsensibel) sein können. Nach der Monotropismus-Theorie wäre die Hochsensibilität dadurch erklärbar, dass eine hohe Detailwahrnehmung in den Prozessen herrscht, die Aufmerksamkeit erhalten – die also von Interesse sind – während die uninteressanten Bereiche weniger stark verarbeitet werden und zu einer Hyposensibilität (Unsensibilität) führen.
Eine Person mit starkem Interesse für Musik und musikalische Klänge kann also tief in die Musik eintauchen und dort eine hohe Detailwahrnehmung haben, weil mit Musik verbundene kognitive Prozesse mehr Aufmerksamkeit erhalten und gefördert werden. Im Gegensatz dazu könnten Rufe nach der Person, auch wenn sie ihren Namen enthalten, als soziale Vorgänge (die eher von einem breiteren Aufmerksamkeitsspektrum profitieren), überfordernd und uninteressanter sein, dadurch weniger Aufmerksamkeit erhalten und zu einer verminderten Wahrnehmungsfähigkeit führen.
In der Monotropismus-Theorie werden autistische Personen nicht im Sinne struktureller Defizite betrachtet, wie von dem medizinischen Modell von Autismus vorgeschlagen. Stattdessen werden ihre Tendenzen für Verarbeitung, Wahrnehmung, Lernen und Verhalten aus ihrem eigenen, monotropischen Interessensystem abgeleitet. Damit ist sie eine Theorie, die mit dem Verständnis der Neurodiversität kompatibel ist.
Autismus Symptome
Die häufigste Definition von Autismus, der man heute begegnet, ist nach wie vor die einer „lebenslangen Entwicklungsstörung, die beeinflusst, wie eine Person mit anderen kommuniziert und Beziehungen aufbaut. Sie beeinflusst auch, wie sie die Welt um sich herum versteht.“ (National Autistic Society NAS, 2024)
Trotz starker Kritik hat diese defizitäre, auf das medizinische Modell ausgerichtete Definition, die sich auf Beeinträchtigungen und Verhaltensdefizite beschränkt, bis heute die Diagnosekriterien geprägt. Seit 2012 haben die Kriterien nur geringfügige Veränderungen erfahren; als zentraler Leitfaden für die Diagnose gilt immer noch eine „Triade der Beeinträchtigungen“. Dabei handelt es sich um die drei Bereiche soziale Interaktion, Kommunikation und eingeschränkte Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten mit folgenden Symptomen:
Soziale Interaktion
- Deutliche Beeinträchtigungen in nonverbalem Verhalten wie Blickkontakt oder Körperhaltung
- Keine Entwicklung altersgerechter Beziehungen zu Gleichaltrigen
- Mangelndes Teilen von Freuden, Interessen oder Erfolgen mit anderen
- Fehlende emotionale Gegenseitigkeit
Kommunikation
- Verzögerung oder völliges Fehlen der gesprochenen Sprache (nicht beim „Asperger-Syndrom“)
- Deutliche Beeinträchtigung bei der Einleitung und Aufrechterhaltung von Gesprächen
- Stereotyper und idiosynkratischer Sprachgebrauch
- Mangel an spontaner Fantasie oder Nachahmungsspiel
Eingeschränkte Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten
- Intensive Beschäftigung mit einem oder mehreren stereotypen und begrenzten Interessengebieten
- Unflexibles Festhalten an spezifischen, nicht funktionalen Routinen oder Ritualen
- Stereotype und repetitive motorische Manierismen (z. B. Händeflattern)
- Anhaltende Beschäftigung mit Teilen von Objekten
Es gibt zwei wichtige Gründe, warum dieses Verständnis von Autismus kritisiert wird und in der modernen Wissenschaft als überholt gilt:
Erstens findet eine Verlagerung des Problems auf das Gehirn oder den Geist der autistischen Person statt; also weg von der Welt, in der die Person lebt, oder in den Beziehungen und Interaktionen, in der sie sich wiederfindet. Diese Perspektive ist entschieden im Widerspruch zum sozialen Modell von Störungen und Behinderungen (s. Barnes & Mercer, 2003).
Ein weiterer Grund ist die defizitäre Perspektive auf Autismus. Die Ausdrücke „unflexibles Festhalten“ oder „intensive Beschäftigung“ z. B. sind keine Abweichungen von objektiven Kriterien eines gesunden Erlebens, sondern von einer sozial konstruierten „Normalität“, dem neurotypischen Verhalten. Das Defizit ist also eine Sache der Perspektive: konstruiert man eine Normalität, die das autistische Erleben ausschließt, erscheinen die Fähigkeiten autistischer Menschen als defizitär.
Um z. B. von einer sozialen Beeinträchtigung zu sprechen, müsste der soziale Kontakt eine Art Realität abbilden, die dazu noch messbar sein müsste. Neurotypischen Menschen, also denen, die neurologisch nicht auffällig sind, kommt es die meiste Zeit auch so vor: Eine soziale Situation wird eindeutig eingeordnet und verstanden – es scheint so, als wäre der soziale Subtext eigentlich unmissverständlich klar. Dadurch entsteht der Eindruck, autistische Personen hätten ein Defizit: Sie wären nicht imstande, diesen sozialen Subtext zu erkennen.
Doch viele Soziolog*innen zweifeln an diesem vermeintlichen Grundverständnis. Denn nach moderner Auffassung wird der soziale Subtext zwischen den Beteiligten konstruiert. Es handelt sich also nicht um eine unverkennbare, objektive Realität wie ein Lachen oder eine eindeutige Geste, sondern um etwas Subjektives, im Moment von den Parteien erschaffenes.
Das bedeutet aber auch, dass autistische Menschen nicht etwas real Existierendes wie ein vorbeifahrendes Auto verpassen, sondern sich einfach nicht an einer impliziten, unausgesprochenen Abmachung beteiligen, ein Ereignis auf bestimmte Art und Weise zu interpretieren. Das fehlende Partizipieren im „Beschwören“ eines Subtextes kann nicht als soziales Defizit beschrieben werden, sondern höchstens als eine Abweichung.
Es gibt genügend Kontexte, in denen solch abweichendes Verhalten als Fähigkeit betrachtet werden kann, denn als Defizit: Indem eine autistische Person wie Greta Thunberg (die nach eigenen Angaben mit dem Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde) nicht einen sozial konstruierten Subtext wie „es ist schon in Ordnung, wie wir mit dem Planeten umgehen“, mitgeht, ist sie in der Lage, den von Menschen verursachten Klimawandel direkter und unvermittelter zu erkennen und die Gesellschaft zur Verantwortung zu ziehen.
Ähnliches ließe sich für jemanden wie Albert Einstein sagen: hätte er, wie die meisten Menschen, das implizite Verständnis darüber, was Zeit zu sein scheint, ebenso konstruiert, hätte er die generelle und spezielle Relativitätstheorie sicherlich nicht entwickeln können, da sie eine vollkommen neue Art erfordert, über Zeit nachzudenken.
Unterstützt wird diese Kritik am defizitären Verständnis durch den Umstand, dass viele autistische Personen die Fähigkeit erwerben können, sich den sozialen Subtext zu konstruieren, wenn sie sich für soziale Interaktion interessieren und genügend Zeit haben, um sich den Kontext zu erschließen.
So kann es passieren, dass ein autistischer, erwachsener Mann durch das penible Studium alter romantischer Hollywood-Filme zu einem regelrechten Meister des Datings wird (Attwood & Garnett, 2022). Es ist also unlogisch, von einem individuellen „sozialen Defizit“ zu sprechen, wenn autistische Personen dieses Konstrukt nicht von sich aus mit aufbauen, aber die Fähigkeit haben, es zu erlernen.
Im Falle von Interaktionen zwischen autistischen Menschen und solchen, die nicht auf dem Autismus-Spektrum sind, haben oft beide Probleme damit, sich ineinander einzufühlen: ein „doppeltes Empathie-Problem“ („Double-Empathy-Problem“), wie Milton es nennt (D. Milton, 2012). Tatsächlich sprechen autistische Autoren seit vielen Jahren davon, dass Empathie eine „zweiseitige Straße“ sei. Dr. Michelle Garnett spricht auch davon, dass affektive Empathie bei autistischen Personen oft sogar stärker funktioniere als bei allistischen, aber die kognitive Empathie Schwierigkeiten verursache (Attwood & Garnett, 2022).
Das Symptom „fehlende emotionale Gegenseitigkeit“ ist also ein weiteres Beispiel für eine neurotypische Sicht auf autistische Menschen, die nicht in Objektivität verwurzelt ist und zu einer defizitären Bewertung autistischer Menschen führt.
Im einfachsten Fall führen die unterschiedlichen Perspektiven von neurotypischen und autistischen Menschen bloß zu zwischenmenschlichen Missverständnissen. Wenn eine Seite aber dominiert und die eigene Ansicht der anderen aufzuzwingen vermag, können sich daraus verheerende Konsequenzen ergeben (D. Milton, 2012). Die Außensicht des dominanten Anderen kann internalisiert werden und zu einem Verlust der Verbindung zum eigenen, authentischen Selbst führen.
Eben das ist eine der zentralen Herausforderungen und Probleme des autistischen Erlebens. Denn autistische Menschen werden ununterbrochen, also 24 Stunden am Tag, für sieben Tage die Woche, mit neurotypischen Ansichten konfrontiert. Hinzu kommt, dass Verbände und Institutionen, die Diagnosekriterien festlegen, strukturelle Macht über autistische Personen ausüben können. Filme, Lehrer, Trainer, Veranstaltungen, Psycholog*innen, Diagnosen, Eltern, Behörden – es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein autistischer Mensch diese Sicht von außen internalisiert und die eigene verloren hat.
Wenn das passiert, fangen autistische Menschen an, sich unter Druck zu setzen und sich den internalisierten Erwartungen entsprechend zu verhalten. Diesen Prozess nennen wir Maskieren oder Camouflagieren und es ist eine Form der neurotypischen Performance. Viele autistische Personen (vor allem autistische Frauen) sind ausgezeichnet darin, ihre autistischen Züge zu maskieren oder zu kompensieren und der Außenwelt eine Person aufzutischen, die sie nicht wirklich sind.
Ich hatte praktisch keine sozial geteilte noch bewusst, absichtlich ausgedrückte Persönlichkeit jenseits dieser Aufführung einer nicht-autistischen ‚Normalität‘, mit der ich weder Verständnis, Verbindung noch Identifikation hatte. Diese getrennte, konstruierte Fassade wurde von der Welt um mich herum akzeptiert, während mein wahres und verbundenes Selbst es nicht wurde. Jeder Löffel dieser Akzeptanz war eine Schaufel voll Erde auf den Sarg, in dem mein wahres Selbst lebendig begraben wurde.
Autismus Diagnose
Wer in Deutschland Autismus bei sich oder dem eigenen Kind vermutet und einen Prozess für Autismus Diagnose durchläuft, sollte sich darüber im Klaren sein, dass vermeintlich „offizielle Diagnosekriterien“ und daher auch diagnostische Praktiken eher dem Forschungsstand der 1970er-1980er Jahre entsprechen, als dem aktuellen.
Es gibt international zwei Systeme zur Klassifikation von Krankheiten und Störungen. Das DSM-V der American Psychological Association (APA), das in Deutschland für die Diagnose von Krankheiten nicht eingesetzt wird, aber auch hier in der Forschung Einsatz findet. Sie bietet derzeit die einzige Möglichkeit, Autismus überhaupt als Spektrum abbildend zu diagnostizieren und zwischen Schweregraden der Beeinträchtigung sinnvoll zu differenzieren.
Das andere Klassifikationssystem ist die ICD (internationale Klassifikation der Krankheiten). Seit 2022 gilt in Deutschland formell die ICD-11, allerdings ist diese bisher diagnostisch nicht verbindlich und praktisch wird (Stand: Oktober 2024) in Deutschland nach wie vor nach der ICD-10 diagnostiziert.
Die ICD-10 hat Kriterien für eine Diagnose der Autismus-Spektrum-Störung, die auf das Jahr 1994 zurückgeht und dem wissenschaftlichen Stand der 1970er und 1980er entspricht. Die Unterteilung in frühkindlichen Autismus bzw. Kanner-Autismus, Asperger-Syndrom und atypischen Autismus gilt inzwischen als archaisch, ableistisch und überholt, ist jedoch in Deutschland praktisch noch in Verwendung.
Eltern und Erwachsene, die sich mit Autismus beschäftigen, sollten sich unbedingt darüber im Klaren sein, dass diese Begriffe das autistische Erleben unzureichend bis falsch abbilden.
Mit der ICD-11 sollen diese Kategorien aufgelöst und nach dem Vorbild des DSM-V, Autismus endlich als Spektrum und Kontinuum mit unzähligen Varianten anerkannt werden. Die Hoffnung ist dabei, dass der Zugang zur therapeutischen Unterstützung erleichtert wird; auch für diejenigen Menschen, die sich auf einem Teil des Spektrums befinden, der bisher nicht von den starren Kategorien der ICD-10 erfasst wurde.
Doch während viele Autismus-Therapie-Zentren die anstehenden Veränderungen gutheißen, bleibt ein massiver Kritikpunkt, dass auch die Vorstellung des Autismus-Spektrums nach dem DSM-V deutlich hinter der erlebten Wirklichkeit liegt, da auch er von Grund auf defizitär gedacht wurde. Das moderne Verständnis der Neurodiversität hat sowohl die ICD-11 als auch das DSM-V nicht erreicht.
Ein großer Kritikpunkt der ICD-11 ist z. B., dass die Symptom-Beispiele und damit Orientierungen für die Diagnose nach wie vor auf das beobachtbare Verhalten des Kindesalters zugeschnitten wurden. Die Symptome im Erwachsenenalter unterscheiden sich aber, wie inzwischen bekannt ist, massiv von denen des Kindesalters.
Praxen und Therapiezentren in Deutschland, die sich als modern und wissenschaftlich geben, setzen nicht selten auch bei Erwachsenen Testverfahren ein, die eigentlich nicht zur Diagnose von Erwachsenen geeignet sind (z. B. das ADI-R).
Es scheint, als wäre eine Mehrheit des für die Autismus Diagnose ausgebildeten Personals nicht wirklich in der Lage, Autismus bei Erwachsenen zuverlässig und human zu erkennen und die notwendige Unterstützung anzubieten.
Autismus Diagnose: Kriterien der ICD-11
Als notwendige Kriterien für eine Diagnose werden folgende erachtet:
- Anhaltende Defizite beim Initiieren und Aufrechterhalten von sozialer Kommunikation und reziproken sozialen Interaktionen, die außerhalb des erwarteten Bereichs des typischen Funktionierens in Bezug auf das Alter und das intellektuelle Entwicklungsniveau der Person liegen. Spezifische Ausprägungen dieser Defizite variieren je nach chronologischem Alter, verbaler und intellektueller Fähigkeit und Schwere der Störung.
- Anhaltende eingeschränkte, repetitive und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder übermäßig sind.
- Der Beginn der Störung tritt während der Entwicklungsphase auf, typischerweise in der frühen Kindheit, aber charakteristische Symptome können sich erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen.
- Die Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Einige Personen mit Autismus-Spektrum-Störung sind in der Lage, durch außergewöhnliche Anstrengungen in vielen Kontexten angemessen zu funktionieren, sodass ihre Defizite für andere nicht erkennbar sind. Eine Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung ist in solchen Fällen dennoch angemessen.
Empfehlungen für eine bessere Autismus Diagnose
Es gibt viel Widerstand und Kritik gegenüber diesen Diagnosekriterien, die nach wie vor von einem medizinischen anstatt eines sozialen Modells ausgehen, das Spektrum nur unzureichend abbilden und eine defizitäre Sprache verwenden.
Bei der Wahl eines diagnostischen Zentrums ist daher unbedingt zu empfehlen, dass das Personal mit dem Neurodiversität-Paradigma vertraut ist und moderne wissenschaftliche Standards anwendet. In England oder Australien ist das leichter, in Deutschland scheint es (Stand: Oktober 2024) extrem schwierig. Führende Forschende wie Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett betonen, dass Autismus im diagnostischen Prozess als natürliche Veranlagung und Teil der neurologischen Vielfalt betrachtet werden sollte und schlagen sogar vor, den Begriff „Erkundung“ (Übersetzung des Autors vom Englischen „discovery“) der „Diagnose“ vorzuziehen (Attwood & Garnett, 2022)
In einer idealen Welt ist die diagnostizierende Person selbst autistisch oder mit der Perspektive auf Autismus „von innen heraus“ stark vertraut – d. h., sie kann das Erleben von autistischen Menschen durch eigene Erfahrungen oder Perspektivwechsel nachvollziehen. Die Gefahr, autistisches Erleben als defizitär abzutun oder misszuverstehen, ist ansonsten sehr hoch. Das bedeutet allerdings nicht pauschal, dass nicht-autistische Autismus-Fachkräfte kein Einfühlungsvermögen oder Kompetenz in Bezug auf Autismus hätten. Der Einzelfall ist immer entscheidend.
Weitere Kriterien für eine sorgfältige und hilfreiche Diagnose sollten sein:
- Der Einsatz von Testverfahren, die aktuell und gut validiert sind. Es sind dabei unbedingt mehrere Verfahren anzuwenden.
- Ausführliches Screening für die wahrscheinlichsten Komorbiditäten (gleichzeitig auftretende Störungen / Veranlagungen): bei Erwachsenen z. B. ADHS und Alexithymie.
- Sorgfältige Differenzialdiagnose zu Störungen, mit denen Autismus leicht zu verwechseln sein kann (vorwiegend bei Erwachsenen): z. B. Zwangsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Angststörung, atypische Schizophrenie.
- Gründliches Erfassen der Kindheit, idealerweise durch Gespräche mit mehreren Mitgliedern der Familie, z. B. Eltern, Geschwister, bei Erwachsenen auch Partner.
- Berücksichtigung von Kindheitsfotos und -videos, Zeugnissen und anderen Dokumenten aus der Kindheit.
Für Autismus bei Erwachsenen sollte man außerdem noch folgende Punkte beachten:
- Ausführliche, sich natürlich anfühlende Gespräche, die es erlauben, „hinter die Kulissen“ einer möglichen Performance zu blicken und das Maskieren bzw. Camouflagieren zu erkennen.
- Verzicht auf den Einsatz von Testverfahren, die falsch-negative Ergebnisse produzieren, da sie auf die Diagnose der Kindheit ausgelegt sind (z. B. ADI-R)
- Einsatz von Verfahren, die speziell für Erwachsene entwickelt worden sind
- Einsatz von Test- und Screening-Verfahren, die speziell für die Diagnose von Frauen entwickelt wurden
Vielleicht das wichtigste Kriterium ist allerdings, dass Erwachsene und Kinder, die sich im Diagnoseprozess befinden, das Gefühl haben sollten: „Diese Person versteht mich einfach“. Das Gefühl, verstanden zu werden, ist nicht nur in Therapie oder psychologischer Beratung von fundamentaler Bedeutung – es ist auch essenzieller Bestandteil einer humanen Diagnostik.
Wie geht es nach einer Autismus Diagnose weiter?
Nach einer Autismus Diagnose, ergeben sich mit dieser Diagnose zusammen sehr viele neue Fragen bei der Person selbst, aber auch bei Eltern, Geschwistern und Partnern. Eine der häufigsten ist die nach einem therapeutischen Angebot. Dahinter verbirgt sich oft: „Was soll ich jetzt damit machen?“
Als allererstes gilt es, eine wichtige Sache zu verstehen: Die Autismus Diagnose bedeutet nicht, dass die diagnostizierte Person krank oder gestört ist und vom Autismus geheilt werden muss, soll oder kann. Es bedeutet erst einmal nur, dass sie anders verkabelt sind und aufgrund einer Welt, die nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist und ihr die eigene Sichtweise (häufig gewaltsam) überstülpt, im Laufe ihres Lebens viele Schwierigkeiten und Hindernisse erleben wird.
Eines der Nachteile, Autismus als ein breites Spektrum zu verstehen, kann dabei sein, dass Menschen, die unterschiedlich stark von den physischen und psychologischen gesellschaftlichen Barrieren behindert werden, gruppiert und gemeinsam betrachtet werden. Dabei können die Bedürfnisse sehr unterschiedlich sein.
Mit sogenannten Funktionslabels („functioning labels“) gibt es den Versuch, zwischen autistischen Menschen, die eher gut mit den gesellschaftlichen Barrieren klarkommen (wie beim „Asperger-Syndrom“ oder hochfunktionalen Autismus), und anderen, die erhebliche Probleme damit haben (wie beim „Kanner-Autismus“), zu unterscheiden.
Die meisten autistischen Menschen lehnen diese funktionalen Begriffe jedoch ab, da sie die Inklusion erschweren und die Gefahr erhöhen, dass eine Hierarchie des Autismus entsteht (Gray-Hammond, 2024). Gleichzeitig ist es aber wichtig, dass autistische Personen entsprechend ihren Bedürfnissen Unterstützung erhalten können.
Ziel ist es, zu verstehen, dass das Autismus-Spektrum sowohl Menschen mit mehrfacher und schwerer Behinderung umfasst, als auch solche, die problemlos in den gesellschaftlichen Strukturen zu funktionieren scheinen und bei denen keine Anzeichen von Behinderung ersichtlich sind.
Selbst wenn eine autistische Person scheinbar gut durch das Leben kommt und nicht „stark betroffen“ zu sein scheint, kann dieser Schein trügen: oft ist das „fast normal sein“ eine Performance, die seinen Preis hat. Es kann sich großes Unbehagen, Unsicherheit, fehlender Selbstwert oder ein Gefühl großer Leere und ein regelrechter Identitätsverlust dahinter verbergen.
Die bevorzugte Vorgehensweise für viele autistische Personen ist eine fundierte psychologische Beratung mit einer Expertin bzw. einem Experten, die oder der Autismus einfach versteht und erfahren darin ist, autistische Menschen zu begleiten. Wenn zusätzlich auch ADHS oder Alexithymie vorliegt, ist es wichtig, dass auch diese Bereiche zur Expertise der Fachkraft zählen.
In Fällen, bei denen eine psychische Störung oder Erkrankung gemeinsam mit dem Autismus auftritt, wo z. B. eine Angststörung oder Depression vorliegt, kann es sinnvoll sein, diese psychotherapeutisch zu behandeln. Ansonsten ist in den meisten Fällen eine fundierte psychologische Beratung einer Psychotherapie vorzuziehen, denn Autismus ist keine Krankheit, die sich „behandeln“ und „heilen“ lässt und es gibt keine nachgewiesene Effektivität von Psychotherapien für die Kernsymptome des Autismus.
Vielmehr benötigen autistische Menschen Ressourcen, Strategien, Werkzeuge und Selbstverständnis, um das eigene Nervensystem kennenzulernen und einen gesunden Umgang damit zu finden. Denn autistisch zu sein bedeutet, eine einzigartige Wahrnehmung der Welt zu haben – eine Stimme, die im neurotypischen Geschrei unserer Gesellschaft nicht untergehen sollte. Den Weg zu einem authentischen Selbst zu finden und dieses zu leben, ist dabei der wichtigste Schritt für ein erfülltes Leben.
Quellenverzeichnis
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