5 Minuten Lesezeit · 15. August 2025
ADHS bei Erwachsenen: Mehr als nur Unaufmerksamkeit


Inhaltsverzeichnis
Viele Menschen denken bei ADHS an hyperaktive Kinder, die nicht stillsitzen können. Doch ADHS bei Erwachsenen sieht oft ganz anders aus. Es ist ein Missverständnis zu glauben, Menschen mit ADHS seien fantastisch darin, viele Dinge gleichzeitig zu tun. Die meisten Menschen mit ADHS beschreiben ihren Idealzustand, in dem sie sich am wohlsten fühlen und am besten funktionieren, als einen, in dem sie „locked in" sind – also wirklich sehr fokussiert auf eine Sache, die sie fesselt.
ADHS als "Tuning Out": Das eigentliche Problem verstehen
Der bekannte Psychiater Gabor Maté beschreibt ADHS als eine Art „Tuning out", ein Ausklinken als Reaktion auf Überforderung. Das ist es in der Tat, was wir beobachten: Menschen klinken sich aus und verlieren den Kontakt zu ihrem Inneren. Die Symptome, die dann entstehen – Ablenkbarkeit, Impulsivität, Vergesslichkeit, das sprunghafte Denken – sind nicht die Veranlagung selbst, sondern die Flucht vor dem, was in uns passiert: eine Überforderung.
Das moderne Leben überlastet das ADHS-Nervensystem, indem es von überall gleichzeitig fordert und aktiviert, ohne wirklich eine überdauernde Sache vermitteln zu können, die wichtig, spannend und neu ist. Das System wird so überlastet, dass die Signale einen Stau bilden.
Das Jäger-Nervensystem in der modernen Welt
Das ADHS-Nervensystem im gesunden Zustand können Sie sich am besten vorstellen, wenn Sie sich auf der Jagd wähnen. Sie sind über mehrere Tage hinweg mit größter Konzentration und höchstem Fokus unterwegs. Sie haben ein klares Ziel, alles andere ist egal, und der ganze Prozess ist belebend, vitalisierend und fesselnd. Das Nervensystem ist darauf ausgerichtet, dass die Natur immer wieder bestimmte Signale sendet, die besagen: „Das hier und nur das hier ist zu tun, der Rest ist egal. Gib alles."
Unsere moderne Welt sagt jedoch so ziemlich das Gegenteil: „Alles ist ein bisschen wichtig, könnte aber auch ein bisschen wichtiger sein. Ich verrate dir nicht, was wichtig ist, und belohne dich nicht sofort, wenn du etwas erledigst." Der Haushalt ist ein bisschen wichtig, die Steuererklärung, Freunde treffen, die Mutter zurückrufen, zur Arbeit fahren, aber auch Sport machen. Alles ist ein bisschen wichtig.
Für das ADHS-Nervensystem ist das eine absolute Katastrophe.
Typische ADHS-Symptome bei Erwachsenen
1. Das hohe innere Tempo
Die meisten Menschen mit ADHS führen ein Leben, das sehr schnell getaktet ist. Dieses innere Tempo ist meistens mit viel Stress verbunden. Einer der Gründe, warum Menschen mit ADHS ein hohes Tempo im Leben haben, ist der Versuch, vor dem fliehen zu können, was in ihnen passiert – ein gewisser Fluchtinstinkt, nach dem Motto „Hauptsache weg vom Inneren".
Je mehr wir unser inneres Tempo erhöhen, umso unsichtbarer wird das Ganze. Es ist ein bisschen so, wie wenn wir aus dem Fenster schauen, während wir schnell mit dem Auto fahren: Wenn wir langsam fahren, sehen wir noch alles; wenn wir sehr schnell werden, fängt es irgendwann an zu verschwimmen.
2. Schwierigkeiten mit Prioritäten
In einer Welt, die nicht klar kommuniziert, was wichtig ist, haben Menschen mit ADHS besondere Schwierigkeiten. Sie brauchen klare Prioritäten und eindeutige Signale darüber, was jetzt getan werden muss. Ohne diese Klarheit entsteht ein Zustand der chronischen Überforderung.
3. Hyperfokus vs. Ablenkbarkeit
Während Menschen mit ADHS oft als unaufmerksam beschrieben werden, können sie sich bei Dingen, die sie fesseln, stundenlang konzentrieren. Dieser Hyperfokus ist ein zentraler Aspekt, der uns einen Hinweis darauf gibt, wie das Nervensystem eigentlich funktionieren sollte.
4. Emotionale Intensität
Die häufigste Fehldiagnose bei ADHS ist die Depression. Der Unterschied liegt darin, dass bei Menschen mit ADHS Langeweile und das Gefühl, nicht gefesselt zu sein, zu Symptomen führen, die denen einer echten klinischen Depression ebenbürtig sind. Fast alle Menschen mit ADHS, die depressive Verstimmungen haben, kennen es, dass etwas passieren kann, das sie aus dem depressiven Sumpf reißt und sie plötzlich voll gefesselt sind.
Die Dopamin-Problematik verstehen
Bei neurodivergenten Menschen beobachten wir, dass die Dopaminregulierung nicht gut funktioniert. Dopamin wird oft als Glückshormon bezeichnet, ist aber treffender als Motivationshormon zu verstehen. Es ist das, was uns motiviert, etwas wollen lässt und an das Leben fesselt.
Unser Leben ist häufig darauf ausgerichtet, Dopaminspitzen zu suchen – durch soziale Medien, ungesundes Essen oder andere schnelle Belohnungen. Diese Dopaminspitzen belohnen unser Nervensystem plötzlich und heftig, ohne dass eine nennenswerte Leistung dahintersteht. Die Reaktion des Körpers darauf ist Verwirrung, und er stuft die Empfindlichkeit herunter.
Leben mit ADHS: Qualität statt Quantität
Neurodivergente Menschen – egal ob ADHS, autistisch oder hochsensibel – ziehen mehr aus ihrer Umwelt und verwerten sie stärker, sei sie gut oder schlecht. Das Prinzip ist: Qualität statt Quantität. Das bedeutet:
- Weniger, aber dafür intensivere Aktivitäten
- Sorgfältigere Auswahl der Umgebung und Menschen
- Mehr Zeit für Erholung zwischen anstrengenden Tätigkeiten
- Focus auf das, was wirklich wichtig ist
Der Schlüssel: Das Nervensystem verstehen und steuern
Das Wichtigste ist zu verstehen, dass ADHS nicht etwas ist, das man therapieren kann. Es ist eine Veranlagung, die es kontinuierlich zu managen gilt. Die drei Säulen der Erholung sind dabei zentral:
- Schlaf: 7,5-8 Stunden reine Schlafenszeit
- Meditation: Tägliche Praxis zur Regulation des Nervensystems
- Defokussieren: Bewusstes Laufenlassen der Gedanken
Diese drei Bereiche sollten einen signifikanten Teil unseres Tages ausmachen, damit sich unser Nervensystem wieder zu seinem Nullpunkt zurückbewegen kann.
Ein Leben jenseits der Symptome
Wenn sich die Andersartigkeit als Fluch anfühlt, liegt das meistens daran, dass wir unzufrieden sind mit unserem Leben. Die größte Erfüllung liegt für alle Lebewesen darin, sie selbst sein zu können, also die eigenen Talente zu entfalten, das eigene Potenzial zu verwirklichen.
Unser Leid, dass es uns unmöglich macht, normal zu sein und mitzuspielen, ist eigentlich das größte Geschenk. Denn nichts motiviert Menschen so sehr, wie nicht mehr leiden zu wollen. Während neurotypische Menschen sich motivieren müssen, überhaupt nach Authentizität und Selbstausdruck zu streben, ist diese Motivation für uns quasi schon eingebaut.
Wenn Sie sich in diesen Beschreibungen wiedererkennen und mehr über praktische Strategien für ein erfülltes Leben mit ADHS erfahren möchten, können Sie unser kostenloses Assessment machen oder sich über unseren Kurs informieren.

Klinischer Psychologe, Philosoph und Komponist. Autor von Neurodiversität Meistern und Begründer des Eigenraum-Ansatzes.
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